© Peter Josika
Am 28.2.2015 beschloss die Bundesversammlung der Sudetendeutschen Landsmannschaft in München eine neue Grundsatzerklärung sowie einige Satzungsänderungen. Am folgenden Tag berichteten die Medien von einer angeblichen radikalen Neuausrichtung. Schnell machten Schlagzeilen vom "Verzicht auf Restitution und Wiedergewinnung der Heimat" die Runde.
Viele Sudetendeutsche reagierten empört auf diese Medienberichte. Sie fühlten sich von der Bundesversammlung hintergangen. Einige Mitglieder fechten die Beschlüsse nun auch rechtlich an. Politiker in Deutschland und Tschechien äusserten sich wiederum grossteils positiv und sprachen von einem Neuanfang, einige sogar ganz überschwänglich.
In der Tat wurden ein paar Paragrafen gestrichen, in denen bislang die "Wiedergewinnung der Heimat" und eine "Restitution oder gleichwertige Entschädigung" gefordert wurden. Bei genauer Betrachtung wird allerdings eines schnell klar: Die Massenmedien haben aus einer Mücke einen Elefanten gemacht, denn in der Satzung wird immer noch ein gerechter Ausgleich bei Völkerrechtsverstössen, u.a. Vertreibungen und Enteignungen, verlangt. In der Grundsatzerklärung der Landsmannschaft steht ausserdem folgender ganz eindeutiger Passus.
Die Sudetendeutsche Landsmannschaft arbeitet darauf hin, dass die Tschechische Republik die in den Jahren 1945/1946 vom Präsidenten, der Regierung oder dem Parlament der damaligen Tschechoslowakei erlassenen und fortwirkenden Dekrete, Gesetze und Verordnungen, die Unrechtstatbestände – kollektive Entrechtung, Enteignung, Zwangsarbeit, Vertreibung und Ermordung – anordneten bzw. legalisierten, außer Kraft setzt. Dazu fordert sie direkte Gespräche zwischen den Repräsentanten des tschechischen Volkes und Vertretern der Sudetendeutschen Volksgruppe mit dem Ziel, Lösungen zu finden, denen beide Seiten in freier Willensentscheidung zustimmen können.
Von einem Verzicht auf Heimat und Restitution kann also keine Rede sein. Die vom Bundesvorstand beschlossenen Änderungen scheinen vielmehr ein Versuch zu sein, den Zielen der Landsmannschaft eine zeitgemässere Note zu geben. Man sucht das offene Gespräch mit der tschechischen Politik. Die Wortwahl ist globaler, politisch korrekter und moderner. Auch das Thema NS Mitverantwortung und eine entsprechende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wurden nun mit eingebaut.
Die neue Grundsatzerklärung und die überarbeiteten Statuten sind freilich auch ein Ausdruck veränderter Prioritäten. War kurz nach Kriegsende noch die Rückkehr in die kürzlich verlorene Heimat der alles überragende Wunsch der Erlebnisgeneration, geht es den Kindern, Enkeln und Urenkeln nun eher um ein Kennenlernen der ehemaligen Heimat, die Erhaltung der Identität und des Kulturgutes sowie eine beidseitige Aufarbeitung der Geschichte.
Unabhängig vom Ausgang der rechtlichen Anfechtung der Statutenänderungen stellt sich daher heute die wichtige Frage: Welche konkreten Ziele sollten die Sudetendeutschen nun mittel- und langfristig anstreben? Vor allem auch: Was ist 70 Jahre nach der Vertreibung überhaupt noch möglich?
Sicherlich darf Unrecht nicht stillschweigend zu Recht gemacht werden. Die Verbrechen der Nazis dürfen nicht dazu dienen, das an den Sudetendeutschen begangene Unrecht zu relativieren. Die Idee der Kollektivschuld muss weiterhin klar und deutlich zurückgewiesen werden. Individuen können für NS-Verbrechen bestraft werden. Eine ganze Volksgruppe aber nicht!
Auch wenn sich bei vielen Tschechen in den letzten Jahren ein nicht unwesentlicher Wandel in den Ansichten zu diesem Thema vollzogen hat, fokussiert die aktuelle Aufarbeitung in Tschechien fast ausschliesslich auf die Gewalttaten unmittelbar vor und nach Kriegsende.
Diesbezüglich kann allerdings nicht oft genug darauf hingewiesen werden, dass nicht nur die wilden Verteibungen, Misshandlungen und Massaker am Kriegsende, sondern auch die "geordnete" kollektive Enteignung und Vertreibung im Rahmen der Beneš Dekrete und des Potsdamer Abkommens ein Verbrechen darstellen. Ja, sie erfüllen nach der Meinung vieler Völkerrechtler auch den Tatbestand eines Genozids. Die Verharmlosung dieser Tatsache durch Medien und Politiker darf nicht ignoriert werden.
Auch wenn die kritische Auseinandersetzung mit den Nachkriegsvertreibungen in Tschechien zunimmt, bleibt die formelle Aufhebung der Beneš Dekrete weiterhin ein nur sehr schwer erreichbares Ziel. Denkbar wäre vielleicht ein grossteils von der Bundesrepublik Deutschland finanziertes multilaterales Kompensationspaket für Enteignung und Zwangsarbeit, sowie, im Gegenzug, eine Anerkennung des deutschen Kulturerbes in Tschechien.
Eine solche teilweise Wiederanerkennung des Deutschen als zweite Amtssprache würde es den Vertriebenen und ihren Nachfahren ermöglichen in die alte Heimat zurückzukehren und ihre Identität dort als deutschsprachige Bürger zu leben. Auch wenn wohl nur wenige von dieser Möglichkeit Gebrauch machen würden, wäre es ein Zeichen gegenüber den Opfern und ein wichtiger Schritt in Richtung Wiederanerkennung der zweisprachigen Wurzeln Böhmens und Mährens.
Auf EU-Ebene könnte sich die Landsmannschaft vor allem für mehr Subsidiarität und eine Dezentralisierung innerhalb der bestehenden Nationalstaaten im Sinne eines zukünftigen Europas der Regionen stark machen. Mit den Gemeinden und Regionen Tschechiens ist das Gesprächsklima traditionell unkomplizierter und weniger verkrampft als mit den Verantwortlichen des Zentralstaates.
Seit einigen Jahren wird in Brüssel auch über eine EU-weite Regelung zum Schutz autochthoner Minderheiten nachgedacht. Diesbezüglich habe ich vor einigen Jahren einen Vorschlag für ein europaweites Gesetz zum Schutz des Spracherbes vorbereitet, das den Minderheitenschutz auch auf jene Gebiete ausdehnen würde, die durch Völkermord, Assimilierung und/oder Vertreibung in der Neuzeit sprachlich verändert wurden. Es wäre im Sinne der Sudentendeutschen und der verbliebenen deutschen Minderheit wenn eine solche Lösung umgesetzt werden könnte.
Grundsätzlich stellt sich auch die Frage, ob die historisch belastete Bezeichnung "Sudetendeutsche" noch im Interesse der Vertriebenen und ihrer Nachfahren ist. Die deutsche Minderheit in Tschechien verwendet die weniger kontroverse und historisch korrektere Bezeichnung "Deutsche aus Böhmen, Mähren und Schlesien".
Im Sinne eines zusammenwachsenden Europas und einer Aufwertung der regionalen Identitäten, die ja auch Deutsche und Tschechen verbindet, sollte vielleicht auch ein gemeinsamer institutioneller Auftritt der Verbliebenen und Vertriebenen überlegt werden. Damit würden beide Gruppen auch dazu beitragen nicht mehr zeitgemässe nationalstaatliche Denkmuster abzubauen und das verbindende "Europäische" und "Regionale" über das trennende "ethnisch-Nationale" zu setzen.
Ein solcher gemeinsamer Verband der ehemaligen und verbliebenen Deutschen könnte vor allem auch mehr Präsenz zeigen. Während die Slowaken, Polen und Ungarn Tschechiens über prominent platzierte Kulturzentren in der Prager Altstadt verfügen, ist die historisch grösste Volksgruppe Böhmens für Prager und Besucher zurzeit völlig unsichtbar. Das sollte sich schleunigst ändern. Mehr Präsenz wäre natürlich nicht nur in Prag gefragt, sondern auch in anderen Städten mit teilweise deutscher Vergangenheit, wie Brünn, Olmütz, Reichenberg, Böhmisch Krumau, Karlsbad etc. Wer sich aus Angst vor Kritik versteckt, verschwindet natürlich auch schneller aus der Geschichte.
Peter Jósika ist Autor, Historiker und Politikwissenschaftler. Er kann über dir Webseite www.europaderregionen.com kontaktiert werden.
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